Wie kommen wir gut durch die Feiertage?
- Malin

- 19. Nov.
- 8 Min. Lesezeit

Die Vorweihnachtszeit und die Feiertage bringen vieles gleichzeitig: Nähe, schöne Rituale, vielleicht Urlaub – aber auch Stress, Erwartungen und alte Familienmuster. Ein Moment fühlt sich warm und verbunden an, im nächsten möchtest du am liebsten fliehen. Du liebst deine Familie zwar sehr, aber sie kann dich auch wirklich an deine Grenzen bringen. Das ist normal – frag mal andere!
Statistisch sieht man immer wieder: Nach Sommerurlauben und nach Weihnachten gibt es einen deutlichen Anstieg von Trennungen. Das heißt nicht, dass das „gefährliche Zeiten“ sind, sondern: In diesen Phasen zeigt sich besonders klar, wie es einer Beziehung und einer Familie wirklich geht. Plötzlich ist man viel zusammen, der Alltag läuft nicht mehr nebenher, und unausgesprochene Themen treten deutlicher hervor.
Dieser Artikel soll dir helfen, mit mehr Klarheit, Selbstfürsorge und etwas Humor durch diese Zeit zu kommen - ob du zu Hause bleibst, Verwandte besuchst oder verreist.
1. Jetzt planen – statt im Dezember überrollt zu werden
Bevor der Dezember richtig losgeht, nimm dir mal etwas Zeit, setz dich mit einem Blatt Papier oder deinem Notiz-Tool hin und schreib alles auf, was du „tun musst“ und „vorhast“: Geschenke, Adventskalender, Essen, Besuch, Reisen, Familienfeiern, Organisation, eventuell Urlaub mit Partner*in oder Kindern.
Dann sortiere:
Was davon muss wirklich sein – und was ist nur Tradition oder Erwartung anderer (dazu mehr unter Punkt 9)?
Was kannst du delegieren oder teilen – an Partner*in, Kinder, Großeltern, Freund*innen?
Was darf dieses Jahr kleiner, einfacher sein oder ganz wegfallen, ohne dass die Welt untergeht?
Gerade bei Familienurlauben und den „klassischen“ Weihnachtsreisen zur Familie hilft es, vorher mal zu überlegen: Wie viel ist realistisch mit Kindern, mit eurem Energielevel, mit euren Finanzen?
Und: Welche Entlastung könnt ihr einbauen - Großeltern, Freunde, Babysitter/Nanny, Ferien bei/mit anderen Familien? Es ist absolut keine Schwäche, wenn ihr euch Unterstützung holt. Es ist auch keine Pflicht, alles als „perfekte Kernfamilie“ allein zu stemmen, nur weil es auf Social Media bei anderen so aussieht.
Wichtig: Plane tägliche Inseln für dich selbst ein - Spaziergänge, Sport, eine Stunde mit Buch oder Serie, ein Mittagsschlaf, ein Café-Besuch alleine. Diese Zeiten sind kein Luxus, sondern Voraussetzung dafür, dass du überhaupt in Verbindung bleiben kannst - mit dir und den anderen.
2. Erwartungen an „die schöne Zeit“ - Realität checken
Urlaub und Feiertage sind oft überfrachtet mit Erwartungen: Erholung, Harmonie, endlich wieder Nähe, schöner Sex, perfekte Stimmung, zauberhafte Kinder, tolle Geschenke, super Essen, alle verstehen sich. Gleichzeitig fallen Strukturen weg, die den Alltag bislang abgefedert haben: Kita, Schule, Arbeit, Hobbys, Freund*innen, Routinen.
Gerade Familien mit Kindern erleben dann: Man ist „nur noch Familie“ - aber ohne Institutionen, ohne Entlastung, 24/7 zusammen - und wundert sich, warum alle gereizt sind. Viele Paare achten nicht darauf, dass beide mal Zeit für sich haben. Statt „du heute, ich morgen“ versuchen alle, gleichzeitig alles zu sein: Eltern, Partner*in, Animateur*in, Köchin, Entertainer, Erholungsperson. Das überfordert.
Auch Paare ohne Kinder geraten unter Druck: Im Alltag kann man sehr gut nebeneinander herleben - jede*r arbeitet, trifft Leute, hat eigene Themen. Im Urlaub oder an Weihnachten sitzen zwei Menschen plötzlich da, ohne Ablenkung – und merken: Wir haben uns lange nicht wirklich angesehen. Dann reicht manchmal ein Kommentar oder eine enttäuschte Erwartung, um viel hochzuholen.
Hilfreiche Fragen:
Welche Erwartungen habe ich an diese Feiertage / diesen Urlaub – ehrlich?
Was erwarte ich von mir, von meinem Gegenüber, von den Kindern, von der Herkunftsfamilie?
Was wäre eine realistische Version davon?
Was wäre „gut genug“, auch wenn es nicht perfekt ist?
Sprich das vorher an. Und erlaube dir den Gedanken: „Wir müssen keinen Instagram-Weihnachtsfilm produzieren. Wir dürfen eine unperfekte, reale Familie sein.“
3. Aufgaben, Rollen & Mental Load fairer verteilen
Rund um Weihnachten und Urlaub wird oft besonders sichtbar, wie Arbeit verteilt ist: Wer plant Geschenke, packt Koffer, denkt an Winterkleidung, organisiert Essen, koordiniert Großeltern, schreibt Karten, kümmert sich um Kinderprogramm? Und wer „kommt einfach mit“?
Nimm dir (am besten gemeinsam) die Zeit und frag dich:
Wer macht welche unsichtbare Arbeit - Planung, Emotionen halten, Organisation, Stimmung?
Wo fühlst du dich vielleicht alleingelassen oder selbstverständlich?
Was könnte dieses Jahr anders verteilt sein?
Du kannst ganz pragmatisch eine Liste machen:
„Wer übernimmt was?“ - und, wichtig, inkl. „Wer hat wann Pause?“
Typisch hilfreiche Vereinbarungen:
Abwechselnd ausschlafen.
Jede*r hat feste Zeitfenster nur für sich.
Wer heute kocht, muss nicht auch noch das Abendprogramm tragen.
Großeltern oder Freunde werden bewusst als Entlastung eingebaut – nicht nur als zusätzliche Erwartungs- und Bespaßungsquelle.
Es ist kein Versagen, wenn ihr merkt: Ein klassischer Familien-, bzw. Winterurlaub mit drei kleinen Kindern in einem Zimmer ist für euch eher Stress als Erholung.
Dann darf die Lösung beim nächsten Mal anders aussehen: näher dran, kürzer, mit Unterstützung, mit Freunden, bei Oma - oder auch: dieses Jahr kein Urlaub, sondern einfach Zuhause sein.
4. Mehr Zeit als Paar – und was dann?
Wenn du rund um Weihnachten/Urlaub mehr Zeit mit deiner Partnerperson hast, kann zweierlei passieren: Entweder ihr genießt das - oder es fällt euch auf, wie weit ihr euch im Alltag voneinander entfernt habt.
Viele Paare leben eher parallel: Ihr seht euch abends kurz, erledigt Organisatorisches, schaut eine Serie – und merkt kaum, dass der tiefere Austausch fehlt. An Feiertagen oder im Urlaub kommt dann plötzlich die Frage: „Haben wir uns eigentlich noch etwas zu sagen?“
Das muss nichts Schlechtes bedeuten. Schweigen kann schön sein, wenn beide sich wohlfühlen. Aber es kann auch ein Hinweis sein, dass ihr euch neu kennenlernen dürft. Hilfreich sind dann einfache, neugierige Fragen:
„Wie geht es dir wirklich mit diesem Jahr?“
„Was war für dich schön, was schwer?“
„Gibt es etwas, das ich von dir noch gar nicht (oder kaum) kenne?“
„Gibt es etwas, das du mir lange nicht erzählt hast, weil du unsicher warst, wie ich reagiere?“
Diese Gespräche müssen nicht die ganze Zeit füllen. Kleine Momente reichen – ein Spaziergang, 20 Minuten am Abend, ein ruhiges Frühstück zu zweit.
Wenn euch der Einstieg schwerfällt, können Spiele oder Fragenkarten helfen. Oder ihr nehmt euch einfach vor: „Wir stellen uns heute Abend jede:r drei Fragen, die wir sonst nicht stellen.“
5. Wenn Kleinkram explodiert: Vom „Socken-Thema“ zur Bedeutungsebene
Feiertage und Urlaub holen oft Konflikte nach oben, die im Alltag untergehen: Unordnung, wer wie viel Zeit für sich bekommt, wer wem im Haushalt hilft. Ein klassisches Beispiel sind „die Socken auf dem Boden“: Auf der Sachebene geht es um Socken. Auf der Bedeutungsebene geht es oft um etwas ganz anderes:
Respekt („Ich fühle mich nicht ernst genommen.“)
Gerechtigkeit („Ich mache hier alles, du nichts.“)
Biografische Themen („So war es früher zu Hause, das hat sich bedrohlich angefühlt.“)
Freiheit („Endlich darf ich mal nicht perfekt sein.“)
Statt nur auf der Oberflächenebene zu streiten („Du bist schlampig!“- „Du bist pedantisch!“), kannst du - wenn der Moment halbwegs ruhig ist - innerlich oder miteinander fragen:
„Was bedeutet diese Situation für mich?“
„Was macht sie mit meinen alten Erfahrungen?“
„Was könnte das Gleiche für die andere Person bedeuten?“
Das ist kein Muss und nicht immer sofort möglich. Aber wenn ihr es ab und zu schafft, Geschichten und Bedeutungen zu teilen, entsteht Nähe statt weiterer Verhärtung.
6. Der 90-Sekunden-Reset & kurze Deeskalationssätze
Wenn es doch hochkocht - im Wohnzimmer, beim Essen, im Auto - hilft manchmal ein kleiner körperlicher Reset, bevor du reagierst. Ein einfacher 90-Sekunden-Reset kann so aussehen:
Du atmest zweimal hintereinander durch die Nase ein (einmal normal, dann einen kleinen „Nach-Schniefer“) und dann langsam durch den Mund aus, bis die Lunge leer ist. Das wiederholst du drei- bis fünfmal. Währenddessen benennst du innerlich, was du fühlst: „genervt“, „traurig“, „überfordert“. Dann schaust du kurz im Raum auf etwas Neutrales, etwa ein Bild oder den Salzstreuer, und lässt Kiefer und Schultern sinken.
Wenn du dann wieder etwas mehr Boden unter den Füßen hast, helfen kurze Sätze, um nicht weiter Öl ins Feuer zu gießen. Zum Beispiel:
„Ich möchte das heute nicht diskutieren. Lass uns das Thema wechseln.“
„Über Körper, Essen oder Gewicht möchte ich nicht sprechen.“
„Ich will die Zeit genießen, merke aber, dass ich überhitze. Ich brauche kurz eine Pause.“
Danach: Thema wechseln oder kurz den Raum verlassen.
7. Kleine Reparaturen
Auch mit allen Tips und Tricks wirst du nicht 'fehlerfrei' durch die Feiertage kommen. Du wirst genervt sein, mal zu scharf reagieren, vielleicht etwas sagen, was du bereust. Das Entscheidende ist, was du hinterher machst.
Eine kleine Reparatur innerhalb von 24 Stunden kann so klingen:
„Gestern war es angespannt, und mir ist unsere Beziehung wichtig. Ich habe mich [Gefühl] gefühlt, als [kurze Beschreibung]. Beim nächsten Mal möchte ich [Grenze oder Wunsch]. Du bist mir wichtig.“
Zum Beispiel:
„Ich hab mich überfordert gefühlt, als so viel Kritik am Tisch bei mir landete. Beim nächsten Mal möchte ich rechtzeitig sagen, wann es mir zu viel wird. Du bist mir wichtig.“
Du entschuldigst dich nicht für deine Bedürfnisse, sondern zeigst: Die Verbindung ist dir wichtig.
8. Erholung neu denken: Was euch wirklich gut tut
Viele Menschen verbinden Erholung mit „nichts tun“. Für die meisten funktioniert Erholung aber besser mit einem anderen Fokus: etwas tun, das den Kopf beschäftigt, aber nichts mit Arbeit oder Verpflichtungen zu tun hat. Das kann Lesen sein, Basteln, Sport, ein Hobby, Spaziergänge, Spiele mit den Kindern oder auch ein Projekt, das Spaß macht.
Wichtig ist weniger, wie es „von außen“ aussieht, sondern ob es euch wirklich gut tut:
Vielleicht seid ihr das Paar/die Familie, das/die im Winterurlaub aktiv sein will – Skifahren, Wandern, Schlittschuh laufen.
Vielleicht seid ihr das Paar/die Familie, das/die glücklich ist, wenn alle in Jogginghosen sind, das Lego durchs Wohnzimmer fliegt und abends Karten gespielt werden.
Vielleicht braucht eine Person mehr Aktivität, die andere mehr Ruhe.
Statt fader Kompromisse („Alle stehen halb-unzufrieden um 8 Uhr auf“) kann eine bessere Strategie sein: mal hat eine Person „ihren“ Tag, mal die andere. Wichtig ist, dass ihr euch vorher ehrlich darüber austauscht und verabredet, dass ihr dann jeweils wirklich mitgeht - ohne versteckte Sabotage und ohne passiv-aggressive Stimmung.
9. Kein Selbstoptimierungs-Projekt - sondern kleine Schritte
Zum Schluss: Dieser Artikel ist keine To-do-Liste für „perfekte Beziehungen“ und keine Einladung zum Selbstoptimierungs-Wahn. Es geht nicht darum, alle Ideen umzusetzen, alles zu besprechen, alles zu klären.
Es geht um kleine, realistische Schritte:
Eine Liste schreiben und Aufgaben etwas fairer verteilen.
Eine Sache streichen, die nur Stress bringt.
Eine Pause am Tag ernst nehmen.
Einen Mini-Reset ausprobieren, bevor du lospolterst.
Ein Gespräch führen, das ihr sonst wegschieben würdet – oder einfach bewusst gemeinsam schweigen, ohne schlechtes Gewissen.
Wenn du merkst, dass du dir zwischendurch wünschst, die Feiertage mögen einfach ausfallen oder gewisse Verwandte spontan verreisen – nimm das mit Humor. Das bedeutet nicht, dass du ein schlechter Mensch bist. Es zeigt, dass dir Beziehung und dein eigenes Wohlbefinden wichtig sind.
Du brauchst keine perfekten Feiertage.
Du brauchst „friedliche genug“ Feiertage – mit genügend Raum für dich, ehrlichen Erwartungen und ein paar Werkzeugen, die dir helfen, ruhig zu bleiben, wenn es eng wird.
10. „Das war aber schon immer so“ - wenn du etwas verändern willst
Gerade rund um Weihnachten stößt man schnell auf Sätze wie: „Das war aber schon immer so“, „Bei uns macht man das so“ oder „Das haben wir noch nie anders gemacht.“
Meist steckt dahinter keine böse Absicht, sondern das Bedürfnis nach Verlässlichkeit, Tradition und Kontrolle in einer ohnehin aufregenden Zeit. Für dich fühlt es sich vielleicht nach Stillstand oder Überforderung an - für die andere Person nach Sicherheit.
Hilfreich kann sein, in drei Schritten vorzugehen:
Würdigen, was bisher war
Bevor du etwas verändern willst, erkenne an, was der andere an dem alten Muster schätzt: „Ich weiß, dass dir unser Heiligabend-Ablauf wichtig ist und dass er für dich nach Familie und Verlässlichkeit aussieht.“
Damit nimmst du keine Position zurück, aber du signalisierst: Ich sehe, dass es dir um etwas Gutes geht.
Deinen Bedarf klar benennen
Dann formulierst du in Ich-Form, was du brauchst – ohne das Alte schlecht zu machen:
„Für mich ist das inzwischen zu viel. Ich merke, dass ich nachmittags völlig fertig bin und die Feier am Abend gar nicht mehr genießen kann. Ich brauche dieses Jahr mehr Ruhe / kürzere Besuche / weniger Programmpunkte.“
Es geht nicht um ein Urteil („das ist falsch“), sondern um eine Zustandsbeschreibung („so geht es mir damit“).
Eine konkrete Alternative anbieten
Statt einfach zu sagen „Ich will das nicht mehr“, hilft ein Vorschlag:
„Können wir den Kirchenbesuch weglassen und dafür länger zusammen frühstücken?“
„Können wir die Besuche auf zwei Tage aufteilen, damit es für alle entspannter wird?“
„Ich komme gern dazu, aber später / nur für den Kaffee / ohne Übernachtung.“
Wenn dir jemand mit „Das war aber schon immer so“ begegnet, kannst du innerlich übersetzen: „Ich habe Angst, dass sich etwas bewährtes auflöst.“
Du kannst darauf reagieren, ohne dich innerlich kleinzumachen:
„Ja, das war lange so - und es war auch wichtig. Gleichzeitig hat sich viel verändert: wir/ich, die Kinder, unsere Energie. Ich möchte, dass es weiterhin schön bleibt - dafür möchten wir/möchte ich es ein bisschen anpassen.“
Wichtig: Du brauchst keine einstimmige Abstimmung über deine inneren Grenzen. Manchmal reicht es, wenn du für dich eine Änderung einführst: später kommen, früher gehen, eine Aufgabe abgeben, einen Besuch auslassen.
Andere müssen das nicht gut finden – aber sie müssen lernen, damit zu leben, dass du nicht alles weiter mitträgst, nur weil es „schon immer so war“.


